von Rosalie Bubalo; Foto von Pixabay

Ich schlage meine Augen auf. Alles ist dunkel. Staubige Luft, mein Herz pocht. Um mich herum ist alles still. Was ist passiert? Angst überkommt mich. Wo bin ich? Ich versuche, meine Beine zu bewegen, aber sie sind irgendwie eingeklemmt. Langsam kommen blasse Erinnerungen hoch. Ich war zu Hause und schlief, als plötzlich der Boden bebte. Die Decke, die Mauern, alles stürzte ein. Dann muss ich wohl ohnmächtig geworden sein.

In meinem Kopf dröhnt alles. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Mein ganzer Körper fängt jetzt an zu zittern. Verzweifelt versuche ich, meine Beine, die zwischen Beton und Schutt eingeklemmt sind, hervorzuzerren. Doch sie rühren sich nicht. Der Beton ist zu schwer. Plötzlich höre ich von draußen dumpfe Stimmen, die zu rufen scheinen. Suchen sie nach mir? Ich schreie um Hilfe, doch keiner hört mich. Ich bin mir nicht sicher, ob wirklich ein lauter Ton aus meiner Kehle kommt. Mir laufen heiße Tränen über das staubige Gesicht. Ich sammle meine ganze Kraft. Ich schreie lauter. Wieso hört mich nur keiner? Und ich suche nach einem Lichtspalt nach draußen. Hoffnungslos! Hier wird mich keiner finden. Es vergehen Stunden um Stunden. Oder sind es Tage? Hier unten hat man kein Gefühl für Tag und Nacht, kein Gefühl für Stunden und Minuten. Meine Kehle ist vollkommen ausgetrocknet. Ich überlege, wie lange ich wohl ohne Wasser überleben kann. Dann fallen mir die Augen zu.

Ich muss Stunden geschlafen haben, als ich von einem kleinen Lichtstrahl auf meinem Gesicht geweckt werde. Langsam öffne ich meine Augen. Das grelle Licht, das ich sei Stunden nicht mehr gesehen hatte. Woher kommt das Licht? Da erblicke ich ein kleines Loch im Schutt nur wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Eine unbekannte männliche Stimme scheint mit mir zu reden. Es ist eine tiefe, freundliche Stimme. Man hat mich endlich gefunden! Da wird ein kleiner dünner Schlauch durch den zentimeterbreiten Spalt zu mir runtergelassen. Er schlängelt sich wie eine kleine Schlange in meine Richtung. Wasser! Wenn ich noch Tränen hätte, würde ich jetzt weinen vor Glück. Ich greife mit meiner freien Hand den Schlauch und fange durstig an, das Wasser zu trinken, das aus dem Schlauch tropft.

Jetzt fängt man an, mir Fragen zu stellen. Ob es mir gut geht? Ja. Ob ich Schmerzen habe? Ja. Aber meine Beine kann ich nicht bewegen. Der Spalt ist so klein, dass ich nur die Augen eines Mannes erkennen kann. Beruhigend redet er auf mich ein und sagt, dass er mich hier rausholen wird. Wieder vergehen Stunden und es scheinen immer mehr Helfer zu kommen. Obwohl ich schwach und müde bin, versuche ich noch mal meinen Körper zu bewegen. Dann sind da plötzlich laute, beängstigende Geräusche. Jetzt bröselt Beton auf mich und ich fange an zu schreien. Da hört es plötzlich auf und ich sehe hinauf zum Spalt. Er ist um einiges größer geworden und ich kann das Gesicht des Mannes mit der freundlichen Stimme sehen. Wieder fängt er an zu reden: „Wir holen Dich hier raus, keine Angst! Wie heißt Du?“ Elif. Ich heiße Elif, bin dreiundzwanzig und will nicht sterben.

Wieder vergehen Stunden und es ist nichts passiert. Ich lausche angestrengt, am Spalt, den Männerstimmen. „Sie ist jetzt schon seit fünf Tagen da unten, uns läuft die Zeit davon!“ Wie lange kann man hier wohl überleben? Die Männerstimmen klingen irgendwie verzweifelt. Da überkommt mich der Gedanke, dass ich es wahrscheinlich nicht lebend herausschaffe. Mein Kopfbrummen wird immer schlimmer. Ich falle schon wieder in einen unruhigen Schlaf.

Als ich aufwache, kommt durch den Lichtspalt eine Hand hinunter. Ich kenne diese Hand. Es ist die Hand meiner Schwester Azra. „Elif, geht es Dir gut? Wir werden Dich hier rausholen, das verspreche ich Dir.“ Ich greife nach ihrer Hand und fange an zu weinen. Ich erinnere mich daran, als wir noch Kinder waren und sie mir als große Schwester immer half, wenn mich andere ärgerten. Sie hat mich immer beschützt. Ich schließe meine Augen. Ich bin glücklich, dass meine Schwester hier ist. Jetzt zieht sie ihre Hand aus dem Spalt. Aufgeregte Stimmen sind zu hören und ein ganz neues Geräusch. PLÖTZLICH bricht ein großes Betonstück von oben haarscharf an mir vorbei. Doch der Lärm hört nicht auf. Plötzlich bröseln weitere Stücke hinunter. „Hilfe, Azra!“ Sie scheinen mich nicht zu hören, da trifft mich etwas am Kopf und mir wird schwarz vor Augen.

Ich schlage meine Augen auf. Alles ist so hell. Ich liege in einem Bett. Da ist wieder die Hand meiner Schwester. Lebe ich? Sie bemerkt, dass ich aufgewacht bin. Langsam komme ich zu mir, noch immer alles verschwommen vor meinem Auge blicke ich zu meiner Schwester. Ohne irgendetwas zu sagen umarmt sie mich. Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich mich fühle, nachdem das alles geschehen war, so viel Angst und Schrecken! Trotz alldem könnte ich nicht glücklicher sein als jetzt, lebend in den Armen meiner Schwester zu liegen. Es war ein Wunder, überlebt zu haben!

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