von Talya Coskun; Foto von Pixabay

So oft habe ich mich gefragt, was es bedeutet, wahrhaftiges Glück zu verspüren. Oft habe ich mich vor meiner beschwerlichen und anstrengenden Flucht nach Deutschland danach gesehnt, unbeschwert und ohne Angst leben zu dürfen. Herzhaft zu lachen. Spaß mit meinen Freunden zu haben. Wie lange ist das schon her? Habe ich denn jemals ein sorgenfreies Leben geführt? Dort, wo jederzeit Bomben flogen, Schüsse fielen und unschuldige Menschen verwundet oder getötet wurden? Meine Familie – mein kleiner Bruder, meine Mama und mein Papa – und ich, lebten lange Zeit inmitten eines zerstörerischen Kriegs und niemand wusste, wie viele Tage noch folgen würden, die Angst und Schrecken mit sich brachten… Irgendwann hielten wir es nicht mehr aus, borgten uns das nötige Geld bei all unseren Verwandten und reisten mit vielen anderen Flüchtlingen – eingepfercht wie Tiere im Käfig – in einem Transporter nach Europa. Unser Ziel war Deutschland. Denn wir hörten, dass es dort Hilfe für uns geben wird, man sich um uns kümmern kann und dass dort keine Bomben fliegen, Schüsse fallen und man ohne Angst das Haus verlassen kann! Ist es das, was man als Glück bezeichnen kann? Das Glück, sorgenfrei aufwachen und einschlafen zu können? Das Glück, all seine Lieben unversehrt und gesund um sich herum haben zu können? Ja, all das trägt zu einem Leben bei, das man genießen kann. Aber in Deutschland habe ich erfahren, dass Glück viel mehr ist als ein Leben ohne Gewalt und Angst. Glück definiert sich vor allen Dingen über die kleinen unvergesslichen Momente, die man sammelt und in unendlicher Dankbarkeit nie wieder vergisst.

Als ich mit meiner Familie nach vielen Wochen der Ungewissheit in Deutschland ankam, habe ich kein einziges Wort verstanden. Alles und jeder erschien mir fremd und ich fühlte mich wie ein Eindringling ohne Aufenthaltsgenehmigung. Durfte ich hier denn Gast sein? Mehr als ein Gast, ein Mitbürger mit denselben Rechten? Ich muss zugeben, ich hatte große Angst, Heimweh und ich sorgte mich um all diejenigen, die wir zurücklassen mussten. Und doch wusste ich: In Deutschland schreibe ich ein neues Lebenskapitel! Und von einem sehr bedeutsamen Teil dieses neuen Kapitels, möchte ich euch jetzt berichten.

Ich besuche nun schon seit vielen Monaten eine Gesamtschule mit hohem Migrationsanteil, weshalb ich mich dort zum Glück schnell eingelebt und neue Freunde gefunden habe. Ich trage am Wochenende Zeitungen aus, um mir ein wenig Taschengeld dazu zu verdienen und endlich kann ich sie wahrnehmen, die Stille, von der ich schon so viel erzählt bekommen habe. Von der Stille ohne Schüsse, Bomben oder Kampfjets, die auch vor der Nacht keinen Halt machen. Und weil ich geradezu süchtig bin nach dieser wohltuenden Stille, habe ich mich eines Tages im Sommer auf den Weg gemacht. Zu einem Ort, an dem man eine Stecknadel fallen hören können soll. Und diesen Ort fand ich in Gestalt eines hohen Berges, umhüllt von Wolken wie Zuckerwatte. So still, dass der eigene Atem lauter empfunden wird als der Aufprall eines Geschosses in eine Wand aus Beton. Habt ihr schon einmal das Privileg gehabt, diese Stille in euch aufzusaugen? Keine Autos, keine Schreie von verzweifelten, verwundeten Menschen. Ich dachte immer, man müsste sich vor der Stille fürchten, sie meiden oder gar Angst vor ihr haben. Ich sage euch: Ich habe mich noch nie in meinem Leben so frei gefühlt, so unglaublich zufrieden! Ich dufte das erste Mal in meinem Leben NICHTS hören als meinen eigenen Atem. Ja, eine Stecknadel hätte ich tatsächlich fallen gehört. Ich weiß, das mag für euch trivial klingen, als nichts Besonderes, über das es sich zu berichten lohnt. Doch ich weiß, dass genau das, eine alles umhüllende Stille ohne Geräusche des Leids und Tods, das wahre Glück bedeuten können. Auf diesem Berg wusste ich: Ich bin in Sicherheit. Hier brauche ich keine Angst vor fremder Willkür und Mordlust haben. Hier kann ich sein, einfach nur ich selbst sein. Und von da an wusste ich: Ich bin angekommen, ich bin dort, wo ich immer sein wollte! An dem Ort, der sich nicht wie ein ewig währendes Gefängnis, sondern wie das Tor in die Freiheit anfühlte. Ich liebte diesen Ort bedingungslos und schon bald begleitete mich meine Familie dorthin.

Das wahre Glück ist für mich die Stille hören zu dürfen.

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