von Ole Steffen; Foto von Pixabay

Hallo, ich heiße Kasim und bin 12 Jahre alt. Eigentlich komme ich aus Afghanistan, einem Land, in dem sich viele Menschen vor den Gesetzen der Regierung fürchten. Jetzt lebe ich hier in Deutschland und hatte großes Glück, dass ich hierhergekommen bin.

Meine Geschichte begann vor sieben Jahren. Ich lebte mit meinen Eltern und meinem Zwillingsbruder Yasin in einem schönen Haus an der Grenze zu Tadschikistan. Doch dann kamen die Soldaten in unsere Stadt, die Erwachsenen hatten Angst und sprachen von Krieg. Ich verstand nicht, was sie meinten, doch ich hatte auch Angst. Zu diesem Zeitpunkt war in unserer Stadt noch alles sicher, doch das Schicksal traf uns schneller, als wir gedacht hätten.

Zwei Tage später kamen unsere Eltern bei einem Bombenangriff auf unsere Stadt ums Leben. Mit Menschen aus unserer Stadt flohen mein Bruder und ich nach Deutschland. Ich weiß nicht mehr, wie es geschah, aber Yasin und ich verloren uns während der Flucht aus den Augen und ich wurde bei einer Pflegefamilie in einer Stadt namens Offenbach aufgenommen.

Sieben Jahre später. Stefan und Kathrin sind die besten Adoptiveltern, die man sich vorstellen kann. Sie kümmern sich immer liebevoll um mich, als wäre ich ihr eigener Sohn. Hier fühle ich mich sicher. Meine richtigen Eltern werde ich natürlich nie vergessen. Stefan und Kathrin haben auch versucht, meinen Bruder zu finden, was ihnen aber nicht gelang, da wir nur seinen Vornamen kannten und auch keine Ausweispapiere vorhanden waren. Ich war unendlich traurig darüber. So sehr hatte ich gehofft, meinen Bruder irgendwann wieder zu finden und ich werde die Hoffnung auch niemals aufgeben. Irgendwann werde ich Yasin wiedersehen!

In meiner Schule fühle ich mich sehr wohl. Klar, der Unterricht macht nicht immer Spaß. Aber ich habe nette Lehrer, eine tolle Klasse und relativ gute Noten. Um mich herum habe ich sehr viele gute Freunde gefunden. Natürlich habe ich auch einen besten Freund. Er heißt Jonas und geht in die gleiche Klasse wie ich. Wir verstanden uns sofort.

Ich habe mir auch sehr lange überlegt, was ich tun würde, wenn ich meinen Bruder wiedersehen würde. Mein neues Leben könnte ich nicht einfach aufgeben und z.B. zu meinem Bruder gehen. Wir würden einfach ganz oft miteinander telefonieren. Ich möchte nur die Gewissheit haben, dass es ihm gut geht.

Heute fahren wir endlich auf Klassenfahrt in den Schwarzwald. Darauf habe ich mich schon sehr lange gefreut. Wir werden viele tolle Aktivitäten machen, wie zum Beispiel eine Bootstour mit Ruderbooten oder einen Kletterpark besuchen. Ich habe es geschafft, mit Jonas in ein Zimmer zu kommen. Wir haben uns vorgenommen, eine Nacht wachzubleiben. Wir müssen uns nur schlafend stellen, wenn die Lehrer ihre letze Zimmerkontrolle machen. Außer uns fährt noch eine Klasse aus Düsseldorf in die gleiche Jugendherberge. Im Bus wird es schon nach fünf Minuten sehr chaotisch. Unsere Klassenlehrerin bekommt leider mit, wie ich mit einem anderen Freund über unsere Pläne, eine Nacht durchzumachen, rede. Mist! Nach zweieinhalb Stunden sind wir endlich angekommen. Die Jugendherberge ist im Blockhüttenstil gebaut und sehr schön. Sie liegt an einem See, in der Nähe eines Waldes. Mit den Schülern aus Düsseldorf haben wir bis jetzt wenig Kontakt, da sie in einem anderen Haus untergebracht sind und auch andere Ausflüge machen. Am vorletzten Tag haben unsere Lehrer mit ihnen ein Fußballturnier geplant. Da ich mich nicht besonders für Fußball interessiere, werde ich wahrscheinlich in dieser Zeit eine der anderen angebotenen Aktivitäten machen. Yasin hat früher sehr gerne Fußball gespielt. Er war sogar recht gut.

Ich habe mir vorgenommen, nicht an meinen Zwillingsbruder zu denken, um die Klassenfahrt genießen zu können. Obwohl wir sehr viel unternehmen, sind meine Gedanken oft bei ihm. Die Ungewissheit, ob es ihm gut geht, bereitet mir immer mehr Kopfzerbrechen. Hat er möglicherweise die Reise nicht überlebt? Vielleicht geht es ihm nicht gut. Wenn ich ihn nicht bald finde, werde ich noch verrückt. „Was ist los?“, fragt mich Jonas. „Ach nichts“, antwortete ich ihm. „Es ist wegen Yasin, oder?“ Ich nicke nur. Ehrlich gesagt habe ich die Hoffnung schon aufgegeben.

Die Klassenfahrt macht sehr viel Spaß. Wir haben schon so viele tolle Sachen gemacht, dass es sich anfühlt, als wären wir schon ewig hier. Eigentlich sind erst zwei Tage vergangen. Leider fahren wir schon übermorgen wieder nach Hause. Morgen bleiben wir den ganzen Tag in der Jugendherberge. Unsere Lehrer wollen uns einen Tag geben, an dem wir machen können, was wir möchten. Am Nachmittag planen wir eine Schnitzeljagd und können verschiedene Aktivitäten machen. Auch das Fußballturnier ist geplant. Die Teams für das Turnier werden schon heute, direkt nach der Ruderbootstour, ausgelost. Ich höre nicht richtig zu, weil ich damit beschäftigt bin, mir mit Julian, einem anderen Freund aus unserem Zimmer, einen Racheplan auszudenken, da einige Kinder aus meiner Klasse unseren geheimen Chips- und Süßigkeitenvorrat geplündert haben. 

Hallo, ich heiße Jonas und ich bin Kasims bester Freund. Die Klassenfahrt war bis jetzt richtig toll. Kasim und ich hatten viel Spaß miteinander und mit unseren Freunden.

Heute ist das Fußballturnier, an dem ich teilnehme. Kasim wird leider nicht teilnehmen, da er sich nicht für Fußball interessiert. Er hat sich für diese Zeit zu einen Bogenschießkurs angemeldet. Beim Fußballturnier besiegen wir unseren ersten Gegner leicht. Im Halbfinale fliegen wir leider aus dem Turnier raus. Also schaue ich beim Finale zu und setze mich auf die Bank neben einen Schüler aus Düsseldorf. „Hi“, sage ich zu ihm, „Bist du auch im Halbfinale ausgeschieden?“ „Ja, leider. Eigentlich habe ich richtig gut gespielt“, sagt er zu mir. Ich frage ihn: „Spielst du eigentlich in einem Verein?“ Er antwortet mir: „Ja, sogar in einem recht guten Verein! Wir haben in der letzten Saison den Düsseldorf-Entscheid unserer Jugend gewonnen.“ „Richtig gut“, freue ich mich für ihn. „Soll ich dir das Foto in der Zeitung zeigen?“ „Gerne!“ Er zeigt mir das Foto. Die Zeitung hat einen Bericht von einer ganzen Seite über ihren Sieg geschrieben. „Und hier ist das Foto“, sagt er, „schau mal, weil ich Kapitän bin, halte ich auch den Pokal hoch. Ich spiele als zentraler Mittelfeldspieler. Aber eher offensiv…“ Ich höre ihm nicht mehr richtig zu, denn etwas ganz Anderes neben dem Pokal zieht meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ein Junge auf dem Bild sieht aus wie Kasim! Vor Schreck bin ich wie gelähmt. Ich frage ihn: „Wer ist denn der Junge, der auf dem Bild neben Dir steht?“ „Das ist unser Ersatzkeeper Yasin, warum?“ Ich kann es kaum glauben. Yasin! Wenn das Kasims Bruder ist… „Aus welchem Land kommt er denn?“, frage ich. Der Schüler aus Düsseldorf antwortet: „Ich glaube, aus Afghanistan. Er ist ein Flüchtling und lebt schon seit sieben Jahren in Deutschland.“ Kein Zweifel, das ist Yasin, der Bruder von Kasim. Das Finalspiel wird abgepfiffen und ich verabschiede mich von dem Jungen.

Nachts liege ich lange wach und überlege, was ich tun soll. Wenn ich Kasim sage, dass ich seinen Zwillingsbruder gefunden habe, wird er vielleicht zu ihm nach Düsseldorf ziehen. Oder er wird nicht mehr so viel Zeit mit mir verbringen, weil er jetzt seinen Bruder hat. Aber Kasim wäre wahnsinnig glücklich und ich entschließe mich dann doch dazu, ihm die ganze Geschichte zu erzählen.

Ich schaue rüber zu Kasim, der von allem noch nichts weiß und schlafe ein. Am nächsten Morgen gehe ich zu dem Jungen aus Düsseldorf und erkläre ihm alles. Er gibt mir Yasins Handynummer, ich steige in unseren Bus und wir fahren nach Hause.

Zwei Tage später stehe ich mit Kasim, Stefan und Kathrin in Kasims Zimmer vor seinem PC und schaue zu, wie Kasim diese Nummer wählt und auf „Videoanruf starten“ drückt.

Wahres Glück bedeutet nicht, einer Gefahr entkommen zu sein oder im Lotto gewonnen zu haben. Auch nicht, seinen verlorenen Bruder wiederzufinden. Wahres Glück begegnet einem in Menschen, die einem Glück bereiten.

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